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Der soziale Notstand ist da. Nicht nur Viren, sondern auch Armut und Ausgrenzung bekämpfen!

Die Pandemie legt grundlegende soziale Probleme offen.

Menschen mit Armutserfahrung erleben, wie sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden. Die gesellschaftlichen Austauschprozesse sind digitalisiert – die Ärmsten sind digital unsichtbar. Wer schon vor der Pandemie arm war, hat in der Pandemie kaum zusätzliche Hilfen zu erwarten. Knapp bemessene Regelsätze, fehlende Unterstützung im Alltag, Fordern statt Fördern, Bildungs- Ungerechtigkeit und die Weitervererbung von Armut über Generationen: in Armut Lebende haben keinen Spielraum und keine Ressourcen, um neue Belastungen auszugleichen.

Mit diesem Papier formulieren wir unsere Erfahrungen und unsere Sichtweise. Das Ausblenden von Armut führt zum sozialen Notstand. Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist gefährdet. Armut stört in jeder Hinsicht. Ein für andere Mitglieder der Gesellschaft selbstverständliches normales Leben ist unmöglich. Darum müssen die Armen selbst zum Störfaktor werden. Wir brauchen jetzt einen demokratischen Streit um Armut und Sozialpolitik.

Menschen mit Armutserfahrung sind Expert*innen in eigener Sache. Armut bedeutet politische
Ausgrenzung. In den politischen Entscheidungsprozessen spielen unsere durch Armut geprägten Sichtweisen und unsere Lebenserfahrungen keine Rolle. Wir wehren uns gegen alle Formen der Ausgrenzung und fordern das demokratische Recht auf Gehört-Werden, Beteiligung und gesellschaftliche Mitgestaltung ein.

Dafür müssen die Ressourcen zur Verfügung stehen, die politisches und gesellschaftliches Engagement ermöglichen:

  • Orte und Mittel, um sich austauschen;
  • Wirksame Konzepte für die Förderung von Solidarität, die Überwindung von Einsamkeit und Vereinzelung und des persönlichen Zusammenhalts zwischen Menschen;
  • Technik und Know-How, um die digitale Anbindung zu gewährleisten;
  • eine Existenzsicherung, dessen Definition nicht bei Nahrung, Kleidung und dem Dach über dem Kopf aufhört;
  • politische und gesellschaftliche Mitbestimmungsmöglichkeiten, auf die sich Menschen mit Armutserfahrung verlassen können;
  • Teilhabe und Beteiligung als Maßstab dafür, ob Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik funktionieren;
  • Anerkennung für ehrenamtliches Arbeiten: finanzielle Unterstützung für das Engagement, zusätzliche soziale Absicherung, Aufwandsentschädigungen und Bereitstellung von notwendigen Ressourcen.

Wir haben uns mit Unterstützung der Diakonie in der „AG Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung“ zusammengeschlossen, um diese gesellschaftliche Problemanzeige vorzunehmen, für die Rechte und Interessen der in Armut Lebenden zu streiten und soziale wie politische Beteiligung aktiv einzufordern. Wir kommen aus der Selbstorganisation Erwerbsloser, Wohnungsloser und Eltern, schildern unsere Erfahrungen und setzen uns dafür ein, alle von Armut Betroffenen zu vernetzen. Auf allen Ebenen ist Beteiligung nötig: bundespolitisch, in den Ländern, in der Kommunalpolitik, im täglichen Miteinander. Es ist dringend nötig, dass wir uns als Menschen mit Armutserfahrung gut vernetzen, damit wir in der Gesellschaft wahrnehmbar werden. Arme haben nichts zu verlieren außer ihrer Armut. Zu einer demokratischen Streitkultur gehört es, dass Streit konstruktiv mit Allen ausgetragen wird, deren Interessen berührt sind. Bisher wird über die Köpfe von Menschen mit Armutserfahrung hinweg entschieden. Zukünftig wollen wir uns einmischen und für Veränderung sorgen.

Die Corona-Krise hat dramatische gesellschaftliche Veränderungen zur Folge, soziale Umbrüche und eine Neuorientierung von Kommunikations- und Entscheidungswegen. Es wird sich schneller und digitaler ausgetauscht und entschieden. Wir wollen dafür sorgen, dass in Einkommens- bzw. Konsumarmut Lebende nicht auf ein „Ende von Corona“ warten und erst Jahre später realisieren, dass sie in den Wartehallen dieser Gesellschaft einfach zurückgelassen und vergessen wurden.

Soziale und kulturelle Teilhabe, eine aktive politische Beteiligung: das muss auch unter Corona-Bedingungen gewährleistet sein. Wenn sich Politik, Kommunikation und Formen des demokratischen Streits rasant ändern, dann muss auch politischer Widerstand gegen soziale Ausgrenzung eine neue Form finden. Unsere Vorschläge gelten nicht nur für eine Corona-Sondersituation.

Teilhabe unterscheidet sich nicht vor, während und nach Corona. Ein neues Miteinander unter den jetzigen, täglichen Bedingungen ist nötig – und muss sich laufend weiterentwickeln.

Wir stellen den sozialen Notstand fest

1. Ein sozialer Neufanfang ist nötig

Alles verändert sich: Gesellschaft, Arbeit, Bildung, Familien. Alles Soziale verändert sich, wenn wir es verändern - neue soziale Antworten sind nötig. Unterbeschäftigung und Erwerbslosigkeit steigen. Sozial benachteiligte Kinder verlieren - auch im Homeschooling - den Anschluss. Getrenntlebende Eltern können die zusätzlichen Belastungen nicht bewältigen. In Langzeit-Erwerbslosigkeit oder mit deutlichen Beeinträchtigungen ihrer Erwerbsmöglichkeiten Lebende verlieren jede Hoffnung auf Veränderung ihrer Situation. Die Arbeitsbedingungen prekär Beschäftigter verschlechtern sich weiter, Outsourcing und Leiharbeit nehmen zu. Kleinselbstständige, Kulturschaffende und Künstler*innen sowie Existenzgründer*innen sind massiv bedroht, ihre Fähigkeiten und Begabungen einzubüßen, ins Abseits zu geraten und ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Die Bildungsbenachteiligung von Menschen, die durch Armut in ihren Gestaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt werden, verschärft sich dramatisch. Menschen unter und an der Armutsschwelle spüren die Auswirkungen der Pandemie und der Veränderungen besonders drastisch und stehen so unter starkem Druck. Zusätzlich werden uns auch die klimapolitische Entwicklung und ihre sozialen Auswirkungen beschäftigen.

Der Zunahme des Wohlstandsgefälles muss durch Umverteilung abgebaut werden. Die Corona-Verordnungen sind für die Lebenssituation von in Armut Lebenden blind. Deswegen ist die Durchsetzung von  Selbstermächtigung / Empowerment nötig, um die Sichtweise von Menschen mit Armutserfahrung öffentlich hör- und wahrnehmbar zu machen und Solidarität der Zivilgesellschaft herzustellen. Jeder und jede muss einen bedingungslosen Zugang zu den Ressourcen haben, die für eine gesellschaftliche, soziale und kulturelle Beteiligung benötigt werden.

Die Digitalisierung muss bessere Beteiligungsformate für alle Bürger und Bürgerinnen ermöglichen, statt die soziale Ausgrenzung zu vertiefen. Persönliche Beteiligungsformate und Begegnungen sind gleichwertig zu virtuellen Austauschmöglichkeiten weiter zu entwickeln.

2. Gesellschaft im sozialen Lockdown

In der Pandemie ist die deutsche Gesellschaft im sozialen Lockdown. Es werden aber nicht 'nur' Kontakte reduziert, das Miteinander wird in Frage gestellt. Dieser Ausschluss betrifft alle in Armut und Ausgrenzung Lebenden hart und existentiell. Es gibt erhebliche Veränderungsprozesse: materiell, technisch, institutionell und gesellschaftlich. Ausgrenzung und Armut nehmen dramatisch zu.

Wir erleben als unerträgliche Belastung:

Einfach so ‚Zumachen‘ hat ganz unterschiedliche Folgen.
Je weniger Möglichkeiten Menschen vor dem Lockdown hatten, desto härter treffen sie die Beschränkungen. Wer schon vorher gut vernetzt war und materielle Rücklagen hatte, kann Nachteile eher kompensieren. Wer vorher weniger hatte, steht jetzt am Abgrund oder stürzt ab. Die Sichtweisen von Menschen in Armutssituationen, ihre Nöte, spielen in der Pandemiebekämpfung keine Rolle. Es ist richtig und wichtig, die Ansteckungszahlen zu verringern. Aber zugleich müssen die sozialen Folgen ausgeglichen werden. Es kann nicht nur darum gehen, Menschen, die vorher gut dastanden, vor den schlimmsten Folgen der Krise zu bewahren. Es muss erst Recht auch für die Menschen etwas getan werden, die schon vorher der Not ausgesetzt waren. Sie dürfen nicht weiterer Stigmatisierung überlassen werden.

Viele trifft es härter..
Eltern mit vielen Kindern und wenig Geld und kleiner Wohnung; Kinder, denen das Mittagessen in Kita und Schule, Betreuung, Treffpunkte und ruhige Arbeitsorte wie Mediatheken und Bibliotheken fehlen; Allein- und Getrennterziehende, die an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten geraten, gemeinsame Erziehung und den Wechsel zwischen zwei Haushalten zu gewährleisten; Menschen, die digitale Zugangswege nicht nutzen können – sei es aufgrund von Sprachproblemen, fehlender technischer Ausstattung oder schlicht, weil es kaum barrierefreie Zugänge gibt. Menschen, die sich nicht digital beteiligen, stehen unter Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck.

Die Existenzsicherung reicht für den immer höheren Bedarf nicht aus.
Die von der Regierung beschlossenen einmaligen Zusatzzahlungen zum Regelsatz stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten. Computer, Headset, Kamera, Drucker und Verbrauchsmaterialien wie Toner oder Papier fehlen. Sonderangebote können nicht genutzt werden. Wer nicht Online shoppen kann und keine Kreditkarte hat, kann weder wichtige Dinge kaufen, noch bei Teilöffnungen Kultur, Museen oder andere Angebote nutzen. Informelle Hilfelösungen, die auf persönlichen Kontakten beruhen, fallen im Alltag aus. Treffpunkte und Beratungsstellen haben oft geschlossen oder sind nur sehr begrenzt erreichbar. Auch Helfende sind mit rigiden Anweisungen konfrontiert, Angebote zu schließen. Das betrifft Tafeln, Archen, Jugendzentren, Selbsthilfe-Reparaturwerkstätten, Bibliotheken, Sportstätten und viele andere Orte.

Wir fordern:

Einsicht und Differenzierung.
Es gibt nicht „die Corona-Maßnahmen“. Kontaktbeschränkungen und Pandemiemaßnahmen müssen differenziert gedacht und verwirklicht werden. Wer digital gut erreichbar ist und sich materiell versorgen kann, kann mehr Beschränkungen kompensieren als Menschen, denen schon lange Geld und Zugangswege fehlten. Darum ist es nicht das gleiche, ob gutverdienende Akademiker*innen in Leitungspositionen im Homeoffice arbeiten, eine von Grundsicherung lebende Familie mit vier Kindern am Digitalunterricht teilnehmen muss oder eine wohnungslose Person einen Online-Hartz-IV-Antrag stellen soll oder Tagessätze ausgezahlt bekommt.

Generell muss gelten: je schwerer sich digitale Zugänge und Kontaktbeschränkungen für bestimmte Personengruppen auswirken, desto mehr muss in alternative Zugangsmöglichkeiten investiert werden. Notfallsprechstunden für existenzsichernde Leistungen in den Behörden sind genauso ein Muss wie Orte, an denen sozial ausgegrenzte Kinder mit der notwendigen Unterstützung und technischen Ausstattung lernen können.

Nach der Krise ist vor der Krise: auch, wenn die Corona-Pandemie absehbar bewältigt werden sollte, trifft jede Krise die Ärmsten am Härtesten. Darum können wir „Corona“ nicht als singuläres Ereignis abtun. Wir brauchen Regeln, die immer dann gelten, wenn gesellschaftliche, wirtschaftliche oder soziale Krisen bedrohlich werden. Es muss von vornherein feststehen, dass Hilfen für die in Armut Lebenden nicht jedes Mal neu zu diskutieren, sondern unmittelbar umzusetzen sind. Aber auch jenseits von Krisenszenarien müssen soziale Hilfen einen Puffer beinhalten, mit dem Krisen-Situationen selbstbestimmt angegangen werden können.

Einen deutlichen Ausgleich von Benachteiligungen.
Wenn allen etwas fehlt, haben Arme weniger als Nichts. Es ist absurd, wenn Schulessen wegfällt, der Betrag dafür nicht ausgezahlt und so getan wird, als könnten Kommunen eine Art Essen auf Rädern für arme Kinder organisieren und finanzieren. Es ist unerträglich, wenn seit über einem Jahr den Menschen das Geld für das Nötigste fehlt, dann aber nur der sehr kleine symbolische Betrag von weniger als 25 Euro im Monat als Corona-Pauschale ausgezahlt wird. Es ist ignorant, wenn viele von Digitalisierung und neuen Kommunikationsmöglichkeiten schwärmen, in Armut Lebende sich aber weder WLAN noch digitale Endgeräte kaufen, geschweige einen Vertrag mit einem Provider finanzieren können. Deshalb muss das Existenzminimum breiter gefasst und neu ermittelt werden. Das, was gesellschaftlich normal ist, muss laut EU-Sozialpakt allen zur Verfügung stehen. Die gesellschaftliche Normalität hat sich verändert – das, was Menschen mindestens brauchen, auch. Deswegen darf es auch zukünftig keine Einsparungen im Sozialen zur Finanzierung der ‚Kosten der Krise‘ auf Kosten der in Armut Lebenden geben: im Gegenteil, hier sind deutliche Investitionen nötig.

Soziale Konzepte, die nicht auf später warten.
Es reicht nicht, so zu tun, als hätten wir es jetzt mit einer vorübergehenden Krise zu tun und danach wird alles besser. Seit über einem Jahr warten wir auf das Ende von „Corona“. Es ist Zeit, nicht länger tatenlos zu bleiben, sondern das zu tun, was jetzt erforderlich ist. Soziale Arbeit und Selbsthilfe müssen so finanziert und ausgestattet werden, dass sie unter den jetzigen Bedingungen funktionieren

3. Soziale Hilfen müssen immer erreichbar sein

Wir machen die Erfahrung, dass durch mehr Ratsuchende überforderte, dabei oft unterfinanzierte Beratungsstellen ihre Angebote einschränken müssen. Auch die Beratung durch Ämter ist stark reduziert. Soziale Einrichtungen und Angebote der Daseinsvorsorge werden geschlossen oder abgebaut. Persönliche zusätzliche Hilfen fehlen.

Wir erleben als unerträgliche Belastung:

Soziale Angebote sind nicht verlässlich.
Viele soziale Einrichtungen und offene Angebote stehen als „freiwillige Leistungen“ schon jetzt auf der Streichliste der Kommunen zur Finanzierung ihrer Corona-Kosten. Auch lange bestehende Projekte bekommen keine sichere Finanzierungszusage mehr.

Der Hilfebedarf steigt.
Die Anzahl der zu bearbeitenden Fälle in der Sozial- bzw. Erwerbslosenberatung steigt, die Fälle und Schicksale werden komplizierter. Helfende Berater*innen und Beistände sind überfordert. Persönlicher Kontakt und Klärungsmöglichkeiten komplexer Sachverhalte sind kaum möglich. Einzelfallprüfungen und die Klärung von Notlagen setzen den persönlichen Kontakt voraus. Je schwieriger die Lebenssituation von Menschen ist, desto nötiger ist, sie niedrigschwellig anzubieten.

Die Hilfen sind schwerer zugänglich.
Auch Helfer*innen ziehen sich im Lockdown zurück. Sie gehören oft zur Risikogruppe, sind engen Kontaktbegrenzungen ausgesetzt oder haben Angst vor einer Infektion. Hilfen werden auch durch staatliche Vorgaben begrenzt. Der Corona-Schutz steht an erster Stelle. An zweiter Stelle müssten aber ausreichende Corona-konforme Alternativen stehen.

Wir fordern:

Soziale Sicherheit.
Staatliche und gesellschaftlich finanzierte Stellen, die die Existenz der Menschen sichern sollen, müssen auch und gerade in der Krise da sein. Eine persönliche Erreichbarkeit muss immer gegeben sein. Trotz der Ausnahmesituation darf sich die Erfüllung von Beratungsmöglichkeiten nicht nur auf die am hartnäckigsten Nachfragenden beschränken. Die Form der Hilfeangebote kann sich ändern, aber nicht ihre Erreichbarkeit. Wenn eine unabhängige Hilfestruktur nicht „so“ aufrechterhalten werden kann, muss sie „anders, aber genauso verlässlich“ da sein.

Sozialen Ausgleich.
Die zusätzlichen Belastungen müssen finanziell ausgeglichen werden. Mit der Pandemie und ihren weiteren Folgen steigen die Sozialberatungsanfragen. Die soziale Not wird nicht plötzlich enden, wenn alle geimpft sind. Dann wird es darum gehen, langfristige Folgeschäden für alle Betroffenen und das soziale Miteinander auszugleichen. Darum muss die Sozialberatung erst recht ausgebaut und sicher finanziert werden. Wer jetzt auf Kosten der Menschen spart, die besonders auf kostenlose kommunale Angebote angewiesen sind, belastet sie doppelt: erst durch den Lockdown und dann durch die Sparprogramme zur Gegenfinanzierung der Corona-Wirtschaftshilfen und der gestiegenen Staatsschulden.

4. Existenzängste und Einsamkeit nehmen zu

Wir stellen fest, dass von Armut betroffene Menschen mit zunehmenden Existenzängsten und Vereinsamung zu kämpfen haben. Stark eingeschränkte Sozialkontakte werden durch bürokratische Hürden und digitale Hilflosigkeit der Betroffenen weiter verstärkt.

Wir erleben als unerträgliche Belastung:

Vereinsamung wird einfach hingenommen.
Einsamkeit und die damit verbundenen Gefahren wie für Kinder, Senior*innen, Studierende, Erwerbslose, Migrant*innen, funktionale Analphabet*innen werden kaum gesellschaftlich thematisiert. Gerade Menschen mit wenig familiären Bindungen und sozialen Kontakten erleben die soziale Isolation durch Kontaktbegrenzungen im Alltagsleben und in der Nachbarschaft umso bitterer. Wo vorher schon wenig Kontakte waren, herrscht jetzt Vereinsamung. In medizinischen und politischen Krisenkonzepten ist Einsamkeit kein Thema. Dabei ist Einsamkeit lebensbedrohlich und macht physisch und psychisch krank. Gesundheit kann nicht entstehen, wo Einsamkeit den Takt vorgibt.

Einfache Begegnungsmöglichkeiten fehlen.
Engagement ist oft auch von dem Wunsch getragen, anderen Menschen zu begegnen, sich auszutauschen und Nähe zu erfahren. Die Partizipation und die Situation der Betroffenen hängen zusammen. Mit dem Wegbrechen von Engagement und Ehrenamt fallen persönliche Kontakte weg. Existentielle Bedrohung gab es schon vorher, jetzt fehlen aber auch die tragenden Kontakte und Netzwerke, die diese teilweise ausgleichen helfen.

Wir fordern:

Gesundheitsrisiken müssen umfassend angegangen werden.
Gesundheitsförderung ist mehr, als Corona-Infektionen zu verhindern. Krisenprogramme müssen umfassend in den Blick nehmen, wie es den Menschen geht und welchen Gesundheitsgefahren sie ausgesetzt sind – auch über eine Vireninfektion hinaus. Zur Prävention gehören bezahlbare Wohnungen für alle, ein gutes Leben mit sozialen Kontakten und Hilfen bei Einsamkeit.

Menschen müssen sich begegnen können.
Abstand halten darf nicht heißen, persönliche Begegnungen gänzlich zu unterlassen und Menschen aus sozialen Netzwerken zu verabschieden. Die Frage darf nicht sein: wie können wir Begegnungen von Menschen verhindern? Sondern: Wie können wir Begegnungen so gestalten, dass sie nicht mit einem hohen Infektionsrisiko verbunden sind: persönlich auf Abstand, mindestens digital mit entsprechenden Zugangsmöglichkeiten.

5. Selbsthilfe und Selbstorganisation auch in der Krise ermöglichen

Wir machen die Erfahrung, dass Strukturen der Partizipation und der Selbstorganisation finanziell, organisatorisch und kommunikativ in Gefahr sind zusammenzubrechen oder nur unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten werden können.

Wir erleben als unerträgliche Belastung:

Orte für die Selbstorganisation fehlen.
Die Selbstorganisation wird erschwert. Möglichkeiten sich zu treffen fallen weg. Auch wenn Treffen mit Abstand möglich wären, sind Räume „sicherheitshalber“ unter Verweis auf digitale Austauschmöglichkeiten geschlossen. Menschen verlieren ihre Netzwerke und vereinsamen.

Arme sind unsichtbar.
Die Wahrnehmung armutsbetroffener Menschen in der Öffentlichkeit hat sich verändert. Sie kommen in der Öffentlichkeit nicht so vor wie vor der Corona-Krise. Menschen, die schon immer gut in Medienkontakten waren, dominieren die Wahrnehmung, obwohl sie Ausnahmen sind. Die „Anderen“ scheint es nicht mehr zu geben.

Ehrenamt fällt weg.
Die Wahrnehmung der Arbeit von ehrenamtlich Engagierten und ihre Mitwirkungsmöglichkeit in den Organisationen werden geringer, ihr Gestaltungsspielraum nimmt ab. Hauptamtliche sind in den Vordergrund getreten und behalten das letzte Wort. Teilhabe und Partizipation entfallen, damit der „Laden" im Krisenmodus „weiter läuft“. Entscheidungen werden von „Professionellen“ getroffen - auch in Parteien, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden. Die kritische Basis fehlt als Korrektiv. Begegnungen von Menschen an öffentlichen Orten und bei Einrichtungen und Initiativen, die Solidarität und Hilfe gestalten, sind kaum mehr möglich. Auch Freizeitmöglichkeiten wie Sport, Kultur oder Chor fallen weg.

Selbsternannte „Anwälte“ ersetzen die Betroffenen.
Wer sich nicht digital beteiligt, ist unsichtbar. Andere machen „anwaltschaftliche“ Arbeit, übernehmen die Stimme der Betroffenen, die selbst zum Schweigen verurteilt werden. Es müsste Standard sein, aktiv ihre Stimme und Lautstärke zu fördern und sich nicht nur um „die Betroffenen“ zu kümmern.

Corona ist (k)eine Rechtfertigung für alles.
Die Corona-Pandemie wird genutzt, um altbekannte Forderungen nach Sozialabbau zu erheben und die soziale Ausgrenzung zu verschärfen. Es fehlt der Widerstand der Betroffenen: sie merken, dass die Selbstorganisation unter Pandemie-Bedingungen nicht gut funktioniert. So wird die Existenzsicherung von Trennungskindern nur noch als außergewöhnliches Notlagenproblem von Alleinerziehenden, nicht mehr als Problem beider Eltern oder als Folge systematischer Probleme in der Kinder- und Familienpolitik diskutiert. Für jede Familienform sind umfassende und gut finanzierte Lösungen nötig. Familienarmut entsteht, weil die bisherige Familienförderung veraltete Bilder von angeblich ‚normalen‘ Familienformen hat, andere systematisch diskriminiert und verarmen lässt. Auf der Straße Lebende werden zum „Infektionsherd“ herabgewürdigt. Sozialabbau wird als Lösung präsentiert, um Krisenkosten abzuwälzen, zu begrenzen und die Wirtschaft zu fördern. Migrant*innen werden als Infektionsträger verdächtigt, ohne dass es dafür Belege gibt. Trotz zunehmender Wohnungsnot ziehen die Mietpreise weiter an und Räumungen werden durchgeführt. Der breite Einbezug von Betroffenen in die Diskussion von Problemlösungen fehlt.

Wir fordern:

Orte für Vernetzung und Selbstorganisation schaffen.
Persönliche Treffpunkte sind gerade für in Armut und Ausgrenzung Lebende existenziell wichtig. Digitale Angebote können dies nicht ersetzen. Es darf kein „einfach mal digital“ geben. Es müssen immer Lösungen vorgehalten werden, wie alle Menschen sich in Sicherheit begegnen können.

Den Menschen Gesicht und Stimme wiedergeben.
Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen nicht mehr vorkommen. Darum müssen alle gesellschaftlichen Akteure bewusst reflektieren, wer jetzt nicht mehr „dabei“ ist und einen Weg finden, die Menschen wieder in ihre Wahrnehmung und in den Austausch zurück zu holen. Dazu gehört auch ein Einbezug, der technisch niedrigschwellig möglich ist.

Das Ehrenamt in der Krise stärken.
Ehrenamtliche Beteiligung darf nicht auf „später“ verschoben werden, sondern muss jetzt möglich sein. Beteiligungsmöglichkeiten dürfen nicht ersatzlos wegfallen, sondern sie müssen als ein zentraler Bestandteil sozialer Organisationen und sozialen Engagements, als systemrelevant, anerkannt werden.

Betroffene müssen für sich selbst sprechen können.
Niemand weiß besser, was Menschen brauchen, als die Menschen selbst. Die Krise ist keine Rechtfertigung dafür, für oder über Menschen mit Armutserfahrung, aber nicht mit ihnen zu sprechen und ihre Interessen ernst zu nehmen.

Nicht jedes Problem ist Corona, nicht jede Lösung die Richtige.
Die Karten müssen auf den Tisch: welche Probleme haben mit Corona zu tun, und welche nicht.

Wir stellen fest:

Eine offene politische Debatte darüber, wie ein soziales Deutschland verwirklicht werden kann, ist nötig! Diese Diskussion ist mit den Menschen zu führen – besonders mit denen, denen es unter den jetzigen Bedingungen immer schlechter geht.


Berlin, 9. Juni 2021

Verantwortlich:
Thomas Müller-Risse, Diepholz; Kay Rasch, Freiburg; Helga Röller, Frankfurt am Main;
Jürgen Schneider, Dinklage; Michael Stiefel, Löwenberg; Heike Wagner, Berlin
Redaktionelle Mitarbeit: Michael David, Petra Zwickert, Diakonie Deutschland
Kontakt: michael.david@diakonie.de

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