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Junge Menschen von 18 bis 27 Jahren zwischen den Hilfesystemen - psychisch krank, suchtkrank, wohnungslos

Einführungsvortrag

Seit Jahren steigt die Zahl junger Volljähriger in der Wohnungslosigkeit kontinuierlich an. Allerdings liegen über  die  genaue  Zahl  wohnungsloser  junger  Menschen  keine  statistischen  Angaben  vor.  Die  BAG Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der betroffenen jungen Menschen unter 30 Jahren im  Jahr 2014 auf 98.000. Hierbei werden jedoch nur die Menschen erfasst, die Angebote der Wohnungslosenhilfe nutzen. 
Genaue Zahlen über psychische Belastungen bzw. Erkrankungen (inklusive Suchterkrankungen) bei ungen Volljährigen  in  der  Wohnungslosigkeit  sind  ebenfalls  nicht  bekannt.  Das  psychische  Leiden  bleibt  oft unerkannt  und  trägt  mit  zu  Hilflosigkeit  und  Verelendung  bei.  Ein  Forschungsprojekt  der  Hochschule Koblenz zeigte bei wohnungslosen Menschen in der Altersgruppe von 20-40 Jahren ein überproportional hohes  Auftreten  psychiatrischer  Krankheitsbilder,  die  einen  stationären  Aufenthalt  erfordern.  Eine Analyse der Daten der unter 25-Jährigen machte deutlich, dass 60 Prozent dieser Altersgruppe in Kontakt mit  der  Jugendhilfe  standen  bzw.  stehen.  Bemerkenswert  auch,  dass  33  Prozent  dieser  Altersgruppe Beratungskontakte mit der Sucht- bzw. Drogenhilfe haben. Auch wenn es sich hierbei um eine regionale Studie  handelt,  liefern  die  Ergebnisse  doch  deutliche  Hinweise  auf  ein  zumindest  teilweises  Versagen professioneller Unterstützungssysteme für bestimmte Personen(gruppen).
Ich werde später auf diesen Aspekt und mögliche Hintergründe zurückkommen.
 
Von wem sprechen wir eigentlich heute und auch morgen? 
 
Sie  alle  kennen  die  jungen  Menschen  aus  Ihrer  beruflichen  Praxis  und  dennoch  möchte  ich  uns  die Situation der Volljährigen kurz vor Augen führen. Wir meinen junge Frauen und Männer, die wohnungslos und in der Regel auf der Straße unterwegs sind und vielfach bei „Bekannten“ oder Freunden unterkommen. Sie haben unterschiedliche gesundheitliche Probleme, konsumieren Drogen oder andere Substanzen missbräuchlich und weisen vielfach psychische Störungen auf. Die Beziehungen zu den Herkunftsfamilien sind schwierig und konfliktbeladen und/oder auch   durch   Gewalt   geprägt.   Wir   meinen   junge   Menschen,   die   auch   aufgrund   ihrer   komplexen Problemlagen keinen Zugang zu Bildungsangeboten haben und vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind.
Häufig  sind  die  jungen  Menschen  aufgrund  von  Sanktionierungen  im  SGB  II  aus  den Leistungen  der Grundsicherung  herausgefallen.  Viele  sind  überschuldet  und  einige  stehen  aufgrund  von  gerichtlichen Verurteilungen  unter  Bewährung  beziehungsweise  waren  inhaftiert  und  sind  vorbestraft.  Die  von  uns gemeinten jungen Volljährigen werden ausgegrenzt und sind nur noch schwer erreichbar, da sie nicht nur aus den institutionellen Bezügen herausgefallen sind, sondern auch aus ihren sozialen Netzwerken und aus Hilfeeinrichtungen. 
 
Es  gibt  unterschiedliche  Studien,  die  sich  mit  der  Gruppe  der  von  Ausgrenzung  bedrohten  jungen Menschen befasst haben (davon sind junge Wohnungslose mit psychischen Erkrankungen dann wiederum eine  Teilgruppe).  Die  jungen  Menschen  werden  beispielsweise  als  „gesellschaftlich  abgehängt“  oder „entkoppelt“ beschrieben. Ihre Zahl wird nach der Studie des deutschen Jugendinstitutes auf bundesweit 20.000  geschätzt.  Wir  freuen  uns  sehr,  dass  Herr  Tillmann  uns  die  Studie  im  ersten  Vortrag  genauer vorgestellt wird.
 
Die Biographien der jungen Volljährigen sind meist gekennzeichnet durch brüchige, unsichere oder sogar gewaltgeprägte  Beziehungen  und  vor  allem  durch  die  Erfahrung,  Beziehungsabbrüchen  ohnmächtig ausgesetzt (gewesen) zu sein. Ihr Vertrauen in die Beziehung zu anderen Menschen ist dabei immer wieder in  Frage  gestellt  und  enttäuscht  worden.  So  waren  viele  der  jungen,  wohnungslosen  und  psychisch kranken Menschen in ihren Familien einer prekären Lebenslage oder emotionaler Vernachlässigung bzw. körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Manche entziehen sich der Situation, in dem zu von zu Hause weglaufen.
 
Aufgrund von negativen Vorerfahrungen in den Herkunftsfamilien und in den Hilfesystemen besteht auf Seiten  der  jungen  Menschen  eine  erhebliche  Skepsis  gegenüber  weiteren  professionellen  Angeboten.
Psychische Vulnerabilität bzw. auch manifeste psychische Störungen können ebenfalls Auswirkungen auf die  Beziehungsaufnahme  und  –gestaltung  haben.  Werden  diese  Auswirkungen  nicht  erkannt  bzw. berücksichtigt und fehlt eine sensible Kontaktaufnahme ziehen sich die betroffenen jungen Menschen weiter zurück und sind immer schwerer zu erreichen.
 
Im    Weiteren   möchte    ich    schlaglichtartig darstellen, an welchen Bedingungen und Aspekten Unterstützungsprozesse scheitern. Ich konzentriere mich dabei auf die Schwachstellen in den Systemen und auf fehlende Angebote, um den Reformbedarf deutlich zu machen.
Uns ist dabei bewusst, dass es vor Ort vielfältige Modelle guter Praxis und ein hohes Engagement bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern gibt, um den jungen Menschen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. 
 
Vor welchen Herausforderungen sehen wir die Kinder und Jugendhilfe?
 
Viele   der   jungen   Menschen,   die   die   niedrigschwelligen   Anlaufstellen   der   Jugendhilfe   und   der Wohnungsnotfallhilfe erreichen, haben in der Vergangenheit Hilfen zur Erziehung erhalten, die z.T. trotz weiterhin bestehenden Hilfebedarfs nicht weitergeführt wurden. Hierfür ist ein Bündel unterschiedlicher Faktoren verantwortlich: Neben der angespannten Kassenlage in vielen Kommunen, sind es oft die jungen Menschen selbst, die den Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nicht wahrnehmen. Sie stellen keinen Antrag, weil sie „genug“ von der Jugendhilfe und deren „Reglementierungen“ haben.
Aber auch eine Selbstüberschätzung der jungen Erwachsenen begünstigt die vorzeitige Beendigung der
Jugendhilfe. Oft kann die Nichtinanspruchnahme aber auch als eine Entscheidung gegen eine  defizitäre“ Selbst- und Fremdwahrnehmung interpretiert werden.
Jugendliche und junge Volljährige mit einer psychischen Verletzlichkeit, mit sich anbahnenden oder auch schon   manifesten   psychischen   Erkrankungen   bringen   die   Hilfesettings   und   Mitarbeiterinnen   und Mitarbeiter  immer wieder an deren Grenzen. Und dies umso mehr, je weniger die psychische Erkrankung mit  ihren  Auswirkungen erkannt  und  in  der  Hilfe  ausreichend  berücksichtigt  wird.  Das    Verhalten  und häufig  auch  der  Suchtmittelkonsum  der  jungen  Volljährigen  führen  dann  zu  einer  Situation,  die  eine Beendigung    der    Hilfen    mit    dem    achtzehnten    Geburtstag    wahrscheinlich    macht.    Oft    gehen Pendelbewegungen zwischen Elternhaus, Wohngruppe, Psychiatrie und Straße dieser Entwicklung voraus. 
Der  vielschichtige  Hilfebedarf,  dem  von  Seiten  der  Einrichtung  nicht  entsprochen  werden  kann,  wird paradoxerweise oft zum Ausschlussgrund der Hilfegewährung. 
 
Eine auch fachliche und konzeptionelle Neuausrichtung der Jugendhilfe im Hinblick auf die spezifischen
Entwicklungsaufgaben junger Volljähriger ist aus unserer Sicht dringend notwendig. Darüber hinaus muss die  Kinder-  und  Jugendhilfe  noch  mehr  als  bisher  Wege  finden,  um  mit  psychischen  Störungen  und Erkrankungen  besser  umgehen  zu  können.  Dazu  braucht  es  mehr  kooperative  Unterstützungs-  und Behandlungsmodelle zwischen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn um es noch einmal zu betonen: Psychisch sehr belastete junge Menschen bedürfen besonderer Hilfe.
Ich  freue  mich,  dass  wir  im  2.  Vortrag  von  Frau  Dr.  Arnscheid  noch  mehr  über  die  Situation  junger Menschen mit psychischen Erkrankungen hören werden.
 
Welche Probleme sehen wir im psychiatrischen und im Suchthilfesystem?
 
Die Mehrheit der psychischen Störungen beginnt in der Kindheit oder im Jugendalter. Nur eine Minderheit der  erkrankten  jungen  Menschen  erhält  jedoch  frühzeitig  eine  angemessene  Behandlung  oder  soziale Unterstützung,    so    dass    bei    einigen    die    unbehandelten    Erkrankungen    chronifizieren    und    es Beeinträchtigungen  der  Teilhabe  kommen  kann.  Oft  dauert  es  Jahre  bis  eine  psychische  Erkrankung diagnostiziert und behandelt wird. Dies kann dazu führen, dass erst in akuten Krisensituationen ein erster Kontakt  zum  Hilfesystem  stattfindet.  Dies  hängt  auch  damit  zusammen,  dass es  in vielen  Regionen  zu wenig kinder- und Jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Angebote gibt und lange Wartezeiten bestehen. Immer wieder wird beschrieben, dass der Übergang von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in
die      Erwachsenenpsychiatrie      eine      große      Hürde      bei      der      Inanspruchnahme      weiterer Unterstützungsangebote darstellt und die starre Altersgrenze für bestimmte Gruppen kontraproduktiv  ist.
Es  fehlen  insgesamt  aufsuchende  und  ambulante  (Komplex-)Angebote,  die  sich  intensiv  auch  um  jene Menschen kümmern und bemühen, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht selbst aktiv nach Hilfe fragen bzw. die  –  zum  Teil  auch  aufgrund  negativer  Vorerfahrungen  –  dem  psychiatrischen  Behandlungssystem ablehnend oder ambivalent gegenüberstehen. 
Auch in der Eingliederungshilfe fehlen ambulante, aufsuchende und vor allem niederschwellige Angebote mit Teams, die ggf. Menschen auf der Straße begleiten und ihre Begleitung flexibel dem sich ändernden Unterstützungsbedarf anpassen können. Darüber hinaus fehlen  in vielen Regionen spezifische Konzepte für junge Erwachsene. 
Für die Suchterkrankungen lässt sich festhalten, dass sie von allen psychischen Störungen diejenigen sind mit der geringsten Behandlungsquote. Als gravierende Probleme möchte ich folgende Aspekte nennen: Es fehlen flächendeckend Angebote für qualifizierte Entzugsbehandlungen sowie verbindliche Regelungen, um einen nahtlosen Übergang von Entzugsbehandlung zur Entwöhnung zu ermöglichen. Aber selbst wenn sich jemand, dazu entschlossen hat, eine medizinische Rehabilitation in Anspruch zu nehmen, wird diese durch die Leistungsträger nur bewilligt, wenn eine positive Prognose bei Antragsstellung vorliegt. Arbeits- und Wohnungslosigkeit führen eher zu einer ungünstigen Prognose. 
Nach  wie  vor  setzen  viele  Angebote  in  der  Suchthilfe  eine  Abstinenz  voraus  bzw.  verfolgen  diese  als einziges   Therapieziel.   Damit   werden   wiederum   bestimmte   Personen   von   vorneherein   von   einer Behandlung bzw. Unterstützung ausgeschlossen.
Am  meisten  von  Fehl-  und  Unterversorgung  betroffen,  sind  Menschen  mit  Suchterkrankung  und
mindestens einer weiteren psychischen Störung.
 
Und die Wohnungslosenhilfe?
 
Dort  tauchen  die  jungen  Volljährigen  dann  ggf.  auf  und  bringen  auch  hier  die  Mitarbeiterinnen  und Mitarbeiter an deren Grenzen. Zumal die Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten für den umfassenden Unterstützungsbedarf und auch für die spezifischen Themen und Entwicklungsaufgaben der  jungen  Volljährigen  in  der  Regel  nicht  angelegt sind.  Die  notwendigen  fachlichen  und  personellen Ressourcen  fehlen.  Neben  der  Notwendigkeit  mit  anderen  Arbeitsfeldern  kooperativ  zusammen  zu arbeiten, ist die Weiterentwicklung und Umsetzung innovativer Konzepte bedeutsam.
Dazu hören wir später Herrn Prof. Busch-Geertsema, den wir gebeten haben das Konzept „Housing First“ auf seine Tragfähigkeit für junge Volljährige hin zu beschreiben.

Dr. Katharina Ratzke, Diakonie Deutschland, Berlin

Alle weiteren Vorträge und die Dokumentation der Workshops finden Sie als Download

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