Einführungsvortrag
Seit Jahren steigt die Zahl junger Volljähriger in der Wohnungslosigkeit kontinuierlich an. Allerdings liegen über die genaue Zahl wohnungsloser junger Menschen keine statistischen Angaben vor. Die BAG Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der betroffenen jungen Menschen unter 30 Jahren im Jahr 2014 auf 98.000. Hierbei werden jedoch nur die Menschen erfasst, die Angebote der Wohnungslosenhilfe nutzen.
Genaue Zahlen über psychische Belastungen bzw. Erkrankungen (inklusive Suchterkrankungen) bei ungen Volljährigen in der Wohnungslosigkeit sind ebenfalls nicht bekannt. Das psychische Leiden bleibt oft unerkannt und trägt mit zu Hilflosigkeit und Verelendung bei. Ein Forschungsprojekt der Hochschule Koblenz zeigte bei wohnungslosen Menschen in der Altersgruppe von 20-40 Jahren ein überproportional hohes Auftreten psychiatrischer Krankheitsbilder, die einen stationären Aufenthalt erfordern. Eine Analyse der Daten der unter 25-Jährigen machte deutlich, dass 60 Prozent dieser Altersgruppe in Kontakt mit der Jugendhilfe standen bzw. stehen. Bemerkenswert auch, dass 33 Prozent dieser Altersgruppe Beratungskontakte mit der Sucht- bzw. Drogenhilfe haben. Auch wenn es sich hierbei um eine regionale Studie handelt, liefern die Ergebnisse doch deutliche Hinweise auf ein zumindest teilweises Versagen professioneller Unterstützungssysteme für bestimmte Personen(gruppen).
Ich werde später auf diesen Aspekt und mögliche Hintergründe zurückkommen.
Von wem sprechen wir eigentlich heute und auch morgen?
Sie alle kennen die jungen Menschen aus Ihrer beruflichen Praxis und dennoch möchte ich uns die Situation der Volljährigen kurz vor Augen führen. Wir meinen junge Frauen und Männer, die wohnungslos und in der Regel auf der Straße unterwegs sind und vielfach bei „Bekannten“ oder Freunden unterkommen. Sie haben unterschiedliche gesundheitliche Probleme, konsumieren Drogen oder andere Substanzen missbräuchlich und weisen vielfach psychische Störungen auf. Die Beziehungen zu den Herkunftsfamilien sind schwierig und konfliktbeladen und/oder auch durch Gewalt geprägt. Wir meinen junge Menschen, die auch aufgrund ihrer komplexen Problemlagen keinen Zugang zu Bildungsangeboten haben und vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind.
Häufig sind die jungen Menschen aufgrund von Sanktionierungen im SGB II aus den Leistungen der Grundsicherung herausgefallen. Viele sind überschuldet und einige stehen aufgrund von gerichtlichen Verurteilungen unter Bewährung beziehungsweise waren inhaftiert und sind vorbestraft. Die von uns gemeinten jungen Volljährigen werden ausgegrenzt und sind nur noch schwer erreichbar, da sie nicht nur aus den institutionellen Bezügen herausgefallen sind, sondern auch aus ihren sozialen Netzwerken und aus Hilfeeinrichtungen.
Es gibt unterschiedliche Studien, die sich mit der Gruppe der von Ausgrenzung bedrohten jungen Menschen befasst haben (davon sind junge Wohnungslose mit psychischen Erkrankungen dann wiederum eine Teilgruppe). Die jungen Menschen werden beispielsweise als „gesellschaftlich abgehängt“ oder „entkoppelt“ beschrieben. Ihre Zahl wird nach der Studie des deutschen Jugendinstitutes auf bundesweit 20.000 geschätzt. Wir freuen uns sehr, dass Herr Tillmann uns die Studie im ersten Vortrag genauer vorgestellt wird.
Die Biographien der jungen Volljährigen sind meist gekennzeichnet durch brüchige, unsichere oder sogar gewaltgeprägte Beziehungen und vor allem durch die Erfahrung, Beziehungsabbrüchen ohnmächtig ausgesetzt (gewesen) zu sein. Ihr Vertrauen in die Beziehung zu anderen Menschen ist dabei immer wieder in Frage gestellt und enttäuscht worden. So waren viele der jungen, wohnungslosen und psychisch kranken Menschen in ihren Familien einer prekären Lebenslage oder emotionaler Vernachlässigung bzw. körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Manche entziehen sich der Situation, in dem zu von zu Hause weglaufen.
Aufgrund von negativen Vorerfahrungen in den Herkunftsfamilien und in den Hilfesystemen besteht auf Seiten der jungen Menschen eine erhebliche Skepsis gegenüber weiteren professionellen Angeboten.
Psychische Vulnerabilität bzw. auch manifeste psychische Störungen können ebenfalls Auswirkungen auf die Beziehungsaufnahme und –gestaltung haben. Werden diese Auswirkungen nicht erkannt bzw. berücksichtigt und fehlt eine sensible Kontaktaufnahme ziehen sich die betroffenen jungen Menschen weiter zurück und sind immer schwerer zu erreichen.
Im Weiteren möchte ich schlaglichtartig darstellen, an welchen Bedingungen und Aspekten Unterstützungsprozesse scheitern. Ich konzentriere mich dabei auf die Schwachstellen in den Systemen und auf fehlende Angebote, um den Reformbedarf deutlich zu machen.
Uns ist dabei bewusst, dass es vor Ort vielfältige Modelle guter Praxis und ein hohes Engagement bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern gibt, um den jungen Menschen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.
Vor welchen Herausforderungen sehen wir die Kinder und Jugendhilfe?
Viele der jungen Menschen, die die niedrigschwelligen Anlaufstellen der Jugendhilfe und der Wohnungsnotfallhilfe erreichen, haben in der Vergangenheit Hilfen zur Erziehung erhalten, die z.T. trotz weiterhin bestehenden Hilfebedarfs nicht weitergeführt wurden. Hierfür ist ein Bündel unterschiedlicher Faktoren verantwortlich: Neben der angespannten Kassenlage in vielen Kommunen, sind es oft die jungen Menschen selbst, die den Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nicht wahrnehmen. Sie stellen keinen Antrag, weil sie „genug“ von der Jugendhilfe und deren „Reglementierungen“ haben.
Aber auch eine Selbstüberschätzung der jungen Erwachsenen begünstigt die vorzeitige Beendigung der
Jugendhilfe. Oft kann die Nichtinanspruchnahme aber auch als eine Entscheidung gegen eine defizitäre“ Selbst- und Fremdwahrnehmung interpretiert werden.
Jugendliche und junge Volljährige mit einer psychischen Verletzlichkeit, mit sich anbahnenden oder auch schon manifesten psychischen Erkrankungen bringen die Hilfesettings und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder an deren Grenzen. Und dies umso mehr, je weniger die psychische Erkrankung mit ihren Auswirkungen erkannt und in der Hilfe ausreichend berücksichtigt wird. Das Verhalten und häufig auch der Suchtmittelkonsum der jungen Volljährigen führen dann zu einer Situation, die eine Beendigung der Hilfen mit dem achtzehnten Geburtstag wahrscheinlich macht. Oft gehen Pendelbewegungen zwischen Elternhaus, Wohngruppe, Psychiatrie und Straße dieser Entwicklung voraus.
Der vielschichtige Hilfebedarf, dem von Seiten der Einrichtung nicht entsprochen werden kann, wird paradoxerweise oft zum Ausschlussgrund der Hilfegewährung.
Eine auch fachliche und konzeptionelle Neuausrichtung der Jugendhilfe im Hinblick auf die spezifischen
Entwicklungsaufgaben junger Volljähriger ist aus unserer Sicht dringend notwendig. Darüber hinaus muss die Kinder- und Jugendhilfe noch mehr als bisher Wege finden, um mit psychischen Störungen und Erkrankungen besser umgehen zu können. Dazu braucht es mehr kooperative Unterstützungs- und Behandlungsmodelle zwischen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Denn um es noch einmal zu betonen: Psychisch sehr belastete junge Menschen bedürfen besonderer Hilfe.
Ich freue mich, dass wir im 2. Vortrag von Frau Dr. Arnscheid noch mehr über die Situation junger Menschen mit psychischen Erkrankungen hören werden.
Welche Probleme sehen wir im psychiatrischen und im Suchthilfesystem?
Die Mehrheit der psychischen Störungen beginnt in der Kindheit oder im Jugendalter. Nur eine Minderheit der erkrankten jungen Menschen erhält jedoch frühzeitig eine angemessene Behandlung oder soziale Unterstützung, so dass bei einigen die unbehandelten Erkrankungen chronifizieren und es Beeinträchtigungen der Teilhabe kommen kann. Oft dauert es Jahre bis eine psychische Erkrankung diagnostiziert und behandelt wird. Dies kann dazu führen, dass erst in akuten Krisensituationen ein erster Kontakt zum Hilfesystem stattfindet. Dies hängt auch damit zusammen, dass es in vielen Regionen zu wenig kinder- und Jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Angebote gibt und lange Wartezeiten bestehen. Immer wieder wird beschrieben, dass der Übergang von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in
die Erwachsenenpsychiatrie eine große Hürde bei der Inanspruchnahme weiterer Unterstützungsangebote darstellt und die starre Altersgrenze für bestimmte Gruppen kontraproduktiv ist.
Es fehlen insgesamt aufsuchende und ambulante (Komplex-)Angebote, die sich intensiv auch um jene Menschen kümmern und bemühen, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht selbst aktiv nach Hilfe fragen bzw. die – zum Teil auch aufgrund negativer Vorerfahrungen – dem psychiatrischen Behandlungssystem ablehnend oder ambivalent gegenüberstehen.
Auch in der Eingliederungshilfe fehlen ambulante, aufsuchende und vor allem niederschwellige Angebote mit Teams, die ggf. Menschen auf der Straße begleiten und ihre Begleitung flexibel dem sich ändernden Unterstützungsbedarf anpassen können. Darüber hinaus fehlen in vielen Regionen spezifische Konzepte für junge Erwachsene.
Für die Suchterkrankungen lässt sich festhalten, dass sie von allen psychischen Störungen diejenigen sind mit der geringsten Behandlungsquote. Als gravierende Probleme möchte ich folgende Aspekte nennen: Es fehlen flächendeckend Angebote für qualifizierte Entzugsbehandlungen sowie verbindliche Regelungen, um einen nahtlosen Übergang von Entzugsbehandlung zur Entwöhnung zu ermöglichen. Aber selbst wenn sich jemand, dazu entschlossen hat, eine medizinische Rehabilitation in Anspruch zu nehmen, wird diese durch die Leistungsträger nur bewilligt, wenn eine positive Prognose bei Antragsstellung vorliegt. Arbeits- und Wohnungslosigkeit führen eher zu einer ungünstigen Prognose.
Nach wie vor setzen viele Angebote in der Suchthilfe eine Abstinenz voraus bzw. verfolgen diese als einziges Therapieziel. Damit werden wiederum bestimmte Personen von vorneherein von einer Behandlung bzw. Unterstützung ausgeschlossen.
Am meisten von Fehl- und Unterversorgung betroffen, sind Menschen mit Suchterkrankung und
mindestens einer weiteren psychischen Störung.
Und die Wohnungslosenhilfe?
Dort tauchen die jungen Volljährigen dann ggf. auf und bringen auch hier die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an deren Grenzen. Zumal die Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten für den umfassenden Unterstützungsbedarf und auch für die spezifischen Themen und Entwicklungsaufgaben der jungen Volljährigen in der Regel nicht angelegt sind. Die notwendigen fachlichen und personellen Ressourcen fehlen. Neben der Notwendigkeit mit anderen Arbeitsfeldern kooperativ zusammen zu arbeiten, ist die Weiterentwicklung und Umsetzung innovativer Konzepte bedeutsam.
Dazu hören wir später Herrn Prof. Busch-Geertsema, den wir gebeten haben das Konzept „Housing First“ auf seine Tragfähigkeit für junge Volljährige hin zu beschreiben.
Dr. Katharina Ratzke, Diakonie Deutschland, Berlin
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