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Einblicke in die EU durch die Brille einer Sozialarbeiterin. Ein Praktikumsbericht

Was hat Soziale Arbeit mit der EU zu tun? In unserer Vorstellung sind Sozialarbeiter meist als Streetworker, Schulsozialpädagogen, im Jugendamt oder im Altenheim zu finden. Doch in der EU? Madeleine Bammel hat durch ein Praktikum im Brüsseler Büro der Diakonie Deutschland die Verbindung von Sozialarbeit und EU-Politik erlebt. Hier ihr Bericht:

 

Für Sozialarbeiter gibt es meiner Meinung nach drei Gründe, sich für Politik zu interessieren:

  • Sozialarbeiter sollten nicht nur reaktiv tätig sein, sondern sich mit den Ursachen von sozialen Missständen, die manchmal in den Strukturen selbst zu finden sind, befassen.
  • Sie besitzen auf der Mikroebene der Gesellschaft wertvolles Wissen, das sie auf politischer Ebene einbringen sollten.
  • Schließlich haben sie den Auftrag der Anwaltschaft, d.h. Interessen von Menschen zu vertreten, „die ihre Stimme nicht erheben können“.

 

Soziales und Politik lässt sich in der Lobbyarbeit gut verbinden. Die Vertreterin der Diakonie Deutschland in Brüssel, Katharina Wegner, schafft mit den KollegInnen der anderen Wohlfahrtsverbänden und NGOs im EU-Parlament und in der EU-Kommission ein Bewusstsein für sozialpolitische Themen und setzt sich für sozial benachteiligte Menschen ein. Für mich klang das nach Sozialer Arbeit, doch mit diesen Aufgaben werden meist Juristen, Politikwissenschaftler oder Theologen betraut. Im Folgenden werden einige Erkenntnisse diesmal aus Sicht einer jungen Sozialarbeiterin geschildert.

 

Wirtschaft und Soziales versöhnen

In der EU wird Soziales immer im Zusammenhang mit Wirtschaft thematisiert. Sie werden allerdings meist als Gegenspieler dargestellt. „Du gehörst also zu den Guten“ bekam ich oft zu hören, wenn ich die Aufgabenbereiche der Diakonie aufzählte. „… und du zu den Bösen“ stellte man hingegen bei einem befreundeten Praktikant fest, der bei einem ThinkTank der Wirtschaft arbeitete. Diese Gegenüberstellung ist auch bei Sozialarbeitern verbreitet. Dies hatte mich allerdings schon immer geärgert: Gehört zu einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht sowohl eine erfolgreiche Wirtschaft, als auch ein gutes Sozialsystem?

Es ist mir einerseits wichtig, die Welt der Wirtschaft kennenzulernen, ihre Interessen und Notwendigkeiten besser zu verstehen und vorurteilsfreier zu betrachten. Viele Sozialarbeiter kostet das Überwindung und so war es auch für mich auf einer Veranstaltung beim Auftritt des einflussreichsten Wirtschaftsführers Russlands und Millionärs Mikhail Fridman und seinem Bodyguard nicht ganz leicht, die Sozialarbeiterstimme in mir zu überhören: „Da kommt die gaaanz böse Wirtschaft!“ und den Gedanken an die vielen armutsgefährdeten Menschen in Europa erst einmal beiseite zu lassen.

Andererseits sollten Sozialarbeiter auch die öffentliche Ansicht über sie selbst und das Soziale um- und mitgestalten um das Vorurteil des naiven Gutmenschen loszuwerden. Während des Praktikums gewann ich den Eindruck, dass insbesondere jetzt ein guter Zeitpunkt dafür sein könnte. Die Erkenntnis, dass Europa auch bei boomender Wirtschaft nicht überleben kann, wenn die sozialen Probleme nicht erfahrbar reduziert werden, verbreitet sich in der europäischen Politik und äußert sich in dem Kommissionsentwurf einer „Europäische Säule sozialer Rechte“. Die EU wendet sich offenbar dem Sozialen zu, um die Krisen zu überwinden, die die Wirtschaft hinterlassen hat oder nicht zu verhindern wusste. In diesen politischen Prozess müssen Sozialarbeiter eingreifen und ihren speziellen Kenntnissen der sozialen Probleme, deren Ursachen und Auswirkungen eine laute Stimme geben. Deshalb hatte ein befreundeter Mitpraktikant recht, als er mich nach der erwähnten Veranstaltung auf dem Rückweg durch die mit Diplomatenautos vollgestopften Straßen kritisch fragte: „Warum hast du in der Diskussionsrunde nichts gesagt?“ In einem produktiven Dialog über die Bedeutung von Soziales und Wirtschaft in der EU, ist die gegenseitige Kenntnis eine Voraussetzung für konstruktive Kompromisse. Wir müssen sie und sie müssen uns kennenlernen! Also müssen wir Sozialarbeiter laut mitreden.

Ich habe mich intensiv mit dem Entwurf der Europäischen Säule sozialer Rechte, die die Sozialpolitik stärken soll, beschäftigt. Am Beispiel dieser Initiative konnte ich die Entwicklung einer politischen Schwerpunktsetzung verfolgen und wie diese von politischen Stimmungslagen, Kommission, Zivilgesellschaft, Parlament und Rat beeinflusst wird.

 

Eintauchen in eine vielfältige Sozialpolitik auf EU-Ebene

Dank Frau Wegner, die meinen Lernprozess in den Mittelpunkt des Praktikums stellte, habe ich durch diverse Veranstaltungsbesuche die Vielfalt der sozialpolitischen Themen entdecken können: Armutsreduzierung, Sozialökonomie, Migrations- Flüchtlings- und Integrationspolitik, Beschäftigung, Digitalisierung, Wohnungspolitik, Europäische Sozialfonds, usw. Ich besuchte aber auch Veranstaltungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, Auswirkungen des Brexits und der Wahlen in den USA, Friedensforschung, Kreativwirtschaft, Demokratiebildung und Kultur. Meine Aufgaben bestanden u.a. darin, durch Vermerke über die besuchten Veranstaltungen die Kollegen in Deutschland über für die Diakonie relevante Aktivitäten der EU zu informieren. Dies erlaubte mir, mich intensiv mit den europäischen Organe und Instrumente der Europäischen Union auseinanderzusetzen und mein Wissen über EU-Politik zu erweitern und mit Leben zu füllen.

Viele der Veranstaltungen eröffneten mir ein für Sozialarbeiter relevantes Feld, mit dem sich die EU beschäftigt. In einer Veranstaltung zum Thema Armutsreduzierung, zu der eine EU-Abgeordnete der Fraktion ALDE eingeladen hatte, kamen sowohl der heutige Präsidentschaftskandidat Frankreichs Emanuel Macron, als auch Vertreter von Sozialinitiativen und Betroffene von Armut zu Wort. Es wurde zusammen mit dem Plenum Ideen über gerechtere Sozialsysteme ausgetauscht, Erfolge und Misserfolge benannt, Schwerpunktsetzungen in Politik diskutiert, Unmut kundgetan, an die Verantwortung der Politiker und der Zivilgesellschaft appelliert und Kontakte für zukünftige Veranstaltungen ausgetauscht. Das hautnahe Miterleben von Entscheidungsfindungen in der EU-Politik und die Möglichkeit sich in so unterschiedlichen Themen weiterzubilden habe ich als einzigartige Chance wahrgenommen.

 

Legitimität und deutsche Überlegenheit im Lobbyismus

Lobbyismus hat schon immer mit der Frage nach ihrer Legitimität zu kämpfen gehabt. Während meines Praktikums, konnte ich die Erfahrung machen, dass gerade im sozialen Bereich Politiker verschiedener Institutionen auf das Expertenwissen angewiesen sind und Lobbyarbeit daher notwendig ist. Allerdings sollte sie nicht unhinterfragt bleiben. Beispielsweise sind die deutschen Interessen in Brüssel weitaus stärker repräsentiert als die der anderen EU-Mitgliedstaaten. Hierzu tragen vor allem die Vertretungen der deutschen Bundesländer bei, die mit beachtlichen Veranstaltungsreihen werben. Deren Legitimität hat sich mir nicht erschlossen, da sie bereits über den Bund repräsentiert werden.

Problematisch kann außerdem gesehen werden, dass Lobbyarbeit von den Finanzierungsmöglichkeiten der Interessensträger abhängt. Nur wer viel Geld hat, kann sich Lobbyarbeit in Brüssel leisten. Daher sind verhältnismäßig weitaus mehr wirtschaftliche Unternehmen in Brüssel vertreten, als soziale Organisationen. Glücklicherweise sind die Wohlfahrtverbände in Deutschland aufgrund unseres Sozialsystems finanziell gut ausgestattet. Doch in anderen EU-Mitgliedstaaten haben soziale Organisationen nicht dieses Glück. Dies hat zur Folge, dass die Lobbyarbeit auch im sozialen Bereich von Deutschland dominiert wird. Umso wichtiger ist es daher, dass die Diakonie Eurodiaconia, das europäische Netzwerk für Kirchen und christlichen NGOs, unterstützt, und dieses weiterhin ausgebaut wird.

 

Europäisch fühlen in einem internationalen Kontext

Schließlich hat mich der internationale Flair der belgischen Hauptstadt beeindruckt. Die unkonventionelle Offenheit und Bereitwilligkeit zum Gedankenaustausch mit Unbekannten haben zu spannenden Gesprächen mit Belgiern geführt, die mir als Touristin von ihrem Land erzählten oder zum Austausch von Sichtweisen mit deutschen Studenten verschiedenster Fachrichtungen. Es gab Gespräche mit Praktikanten aus aller Welt oder mit EU-erfahrenen Menschen, die an den Meinungen junger Europäer interessiert sind und uns bereitwillig ihr Wissen weitergaben.

Ich begegnete innerhalb, wie außerhalb des Europa- und Praktikantenmilieus Menschen, die sich europäisch fühlen und sich, wie ich, die EU nicht wegdenken können. Das gemeinsame Interesse an einem gerechten Zusammenleben, der Respekt, der trotz unterschiedlicher Meinungen herrschte, und die Bereitwilligkeit an einem internationalen Austausch und Diskussionen teilzunehmen, gab mir die Hoffnung, dass die EU trotz des erschütternden Jahres 2016 eine Zukunft hat.

 

 

20. Dezember 2016

Madeleine Bammel

Praktikantin bei der Beauftragten der Diakonie Deutschland bei der EU in Brüssel