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„Es tut sich was“ – Bericht zur Europakonferenz 2018 der Diakonie Deutschland

Zum zweiten Mal kamen die Europa-Interessierten aus dem Diakonie-Gesamtverband zu einer Konferenz in Berlin zusammen, um die „Diakonie-Charta für ein Soziales Europa“ weiterzuentwickeln. Prominenter Gast war diesmal Prof. Heribert Prantl, preisgekrönter Journalist und Autor des Buches „Trotz alledem! Europa muss man einfach lieben“.

Gibt es überhaupt noch Bürger*innen, aus deren Sicht Europa nah an den Menschen ist und dafür sorgt, dass wir in Frieden, Sicherheit und Stabilität zusammenleben? Diese Frage stellte Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, in ihrer Begrüßung. „Die größte Leidenschaft trifft man bei denen, die Europa ablehnen, die es als Dauerkrise und Konkurrenzkampf erleben, für die der Verlust von Arbeitsplätzen und der Zustrom von Fremden beängstigende Themen sind“, bedauerte Loheide. „Für alle anderen scheint Europa weit weg, eine überholte Idee zu sein.“ Die Diakonie meine jedoch, Demokratie und Sozialstaat gehörten zusammen. Soziale Gerechtigkeit müsse erlebt werden. Zu den regelmäßigen Europakonferenzen der Diakonie Deutschland (die erste fand im Dezember 2016 statt) sind darum alle europainteressierten Personen aus dem Gesamtverband eingeladen, die „Diakonie-Charta für ein Soziales Europa“ zu diskutieren und weiterzuentwickeln. 

Das Publikum bei der zweiten Runde der Veranstaltung war entsprechend bunt gemischt. Da war der Referent für Grundsatzfragen, der vor Ort bisher wenig Berührungspunkte mit der Europapolitik hat, sich aber trotzdem irgendwie dafür interessiert. Der Sozialarbeiter, der im Arbeitsalltag zwischen wohnungslosen Deutschen und wohnungslosen Osteuropäern vermitteln muss. Oder der theologische Vorstand eines großen Trägers, der sich fragte, ob bei aller viel beschworener Bürgernähe die Rettung der Banken nicht aber auch notwendig sei.

Prantl: „Es reicht nicht, Dankbarkeit dafür zu verlangen, dass die EU existiert.“

Diese Frage ergab sich aus der Keynote von Prof. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und engagierter Verteidiger des liberalen Rechtsstaats. Prantl betonte in seiner Rede noch einmal die Probleme der EU, über die Konsens besteht unter all jenen, die seit Brexit und Griechenlandkrise analysieren, warum die europäische Idee derzeit so unbeliebt ist. Das Argument „Nur ein gemeinsames Europa kann eine nennenswerte Rolle auf der Weltbühne spielen“ ziehe nicht mehr. Die Europapolitik leide an drei Dingen: Sie sei zu wenig demokratisch, zu unsozial und zu nüchtern / zu wenig emotional. „Bei der Euro-Rettung wurden finanzielle Schutzschirme aufgespannt, aber gerettet wurden nicht Menschen, sondern Wirtschaftssysteme. Sozialpolitik darf kein Annex des Ökonomischen sein“, so Prantl. „Europa braucht eine Reform, eine Vision. Die Menschen müssen erleben, dass Europa ihre persönlichen Probleme anpackt.“ Darum sei ein „Soziales Europa“ der richtige Lösungsweg.

Neue Gedanken brachte er zum Beispiel zum Thema Flüchtlinge ein. Seiner Ansicht nach wird den EU-Bürger*innen durch die geflüchteten Menschen ihre eigene Zukunftsangst vor Augen geführt. Angesichts des vorherrschenden Gefühls, dass es mit der Welt bergab geht, käme die Ablehnung gegenüber Geflüchteten dann möglicherweise daher, dass man sich fürchtet, eines Tages selbst in dieser Situation zu sein. Das Argument, die Demokratie sei zu langsam für die moderne Welt, ließ Prantl nicht gelten: „Der Mensch darf nicht als Störenfried betrachtet werden!“

Nicht zuletzt wirkte die Leidenschaft des Gastredners für das Thema Europa ansteckend. Menschen brauchen Vorbilder. Gerade angesichts all der lauten Kritiker sind öffentliche Personen – und Wohlfahrtsverbände – wichtig, die sich nicht nur in den Detailfragen einer sozialen Union einbringen, sondern auch den Glauben der Bevölkerung an die übergeordnete Idee eines gemeinsamen Europas wieder stärken und inspirieren.

Experten-Lob für die Diakonie-Charta

Die Diakonie-Charta lobte Prantl als „sehr respektables und notwendiges Papier“, das aber nun auf zehn zentrale Punkte und Forderungen eingedampft werden müsse, die dann plakatiert, verbreitet und diskutiert werden könnten. Sein Wunsch an Wohlfahrtsverbände: „Gestaltet und organisiert ein neues Europa mit! Versteht euch als Bauherren! Lobt den Europäischen Gerichtshof, wenn soziale Themen wie etwa der Datenschutz verhandelt werden! Die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung als Ergänzung zu den nationalen Versicherungen, die in der Charta vorgeschlagen wird, überzeugte Prantl sehr.

In der Diskussion im Anschluss an Prantls Impulsvortrag ging es um folgende Fragen:

  • Wie lässt sich der Akku der Europa-Enthusiasten wieder aufladen, der sich unter all der negativen Stimmung zu entladen droht?
  • Wie kann man die sozialstaatliche Dimension nüchterner Themen wie des Vergaberechts klarmachen?
  • Gibt es einen Ort, wo Europa von der Öffentlichkeit aus europäischer Sicht diskutiert wird, ohne Einordnung in nationale Rahmenbedingungen?
  • Welche Rolle können die Medien spielen, um europäische Themen zwar kritisch, aber positiver zu beleuchten?

Bestandsaufnahme und Diskussionsgrundlage: Die „Diakonie-Charta für ein Soziales Europa“

Wie die Charta zustande gekommen war, erläuterten für alle, die bei der ersten Europakonferenz noch nicht dabei gewesen waren, noch einmal Dr. Stephanie Scholz, Europareferentin der Diakonie Deutschland, und Katharina Wegner, EU-Beauftragte und Leiterin der Dienststelle in Brüssel. Eine Arbeitsgruppe hatte die soziale Lage in der EU in Bezug auf Themen Armut, Arbeitslosigkeit und Sozialschutz analysiert und sich mit der Frage beschäftigt, welche sozialpolitischen Kompetenzen die EU überhaupt hat. Daraus waren Handlungsanregungen wie die Forderung nach europaweiten Mindeststandards zur Grundsicherung oder bei den Mindestlöhnen entstanden.

Wegner und Scholz betonten, dass sich in den vergangenen Jahren auf europäischer Ebene einiges getan habe: Drei in der Strategie Europa 2020 genannte Prioritäten hätten eine soziale Dimension, u.a. das Ziel, die Zahl der von Armut bedrohten Menschen zu reduzieren. Fördertöpfe wie der Europäische Sozialfonds, der früher ein reines Beschäftigungsinstrument gewesen sei, unterstützten nun auch Maßnahmen zur sozialen Inklusion – darunter viele Diakonie- Projekte in Deutschland. „Auch EU-Kommissionspräsident Juncker hat ein sozialen Gewissen“, so Wegner. Er hatte die Initiative „Die europäische Säule sozialer Rechte“ gestartet. Ein neues Sozialinvestitionspaket sollte dafür sorgen, dass Sozialausgaben sich nicht mehr auf die Verschuldungsobergrenze auswirken, sondern als Investitionskosten betrachtet werden.

Die Diakonie-Charta wurde in der Politik verteilt (Bund, Land, Europa) und auf Englisch übersetzt, um als Grundlage für die Lobbyarbeit in Brüssel dienen zu können. Sie soll auch Basis für die Aktivitäten der Diakonie zur Europawahl 2019 werden.

World Café am Nachmittag: Wie ist unsere Vision einer idealen EU?

Im Rahmen eines World Cafés am Nachmittag setzten sich die Konferenzteilnehmer in Diskussionsgruppen eingehend mit der Charta auseinander und diskutierten darüber, wie soziale Ausgaben der EU (wie die genannten Mindeststandards) finanziert werden können oder welche Rolle die Wohlfahrtsverbände bei der Gestaltung einer „neuen EU“ einnehmen könnten. Folgende Vorschläge wurden u.a. genannt:

  • Europathemen in soziale Ausbildungen integrieren (Erasmus-Praktika für Azubis ermöglichen, EU-Experten zu Unterrichtseinheiten einladen)
  • Symbolische, aufmerksamkeitsstarke Gesten zur Rettung der EU durchführen (Beispiel: die Diakonie schenkt allen Schulabgängern 2019 ein Interrail-Ticket)
  • Proaktiv in den Diskurs mit Vertretern der Wirtschaft gehen, um diese zu Verbündeten zu machen (denn auch die Wirtschaft profitiert von einem sozialen Europa)

Kritisiert wurde, dass der Charta eine Vision fehle: Wie stellt sich die Diakonie eine ideale EU in fünf Jahren vor? Grundsätzlich herrschte bei der Konferenz jedoch die Stimmung vor, die Gastredner Prantl wie folgt auf den Punkt brachte: „Ich hab‘ das Gefühl, es tut sich was.“